Woche 37/2022
Kolinga
Legacy (Underdog Records)
„Ich wollte über das sprechen, was ich am besten kenne, also mein Leben“ sagt Rébecca M’Boungou von Kolinga, aber auf dem neuen Album Legacy (VÖ 02.09.22) erzählt sie dann doch so viel mehr über die Umbrüche, den Glanz, die Melancholie, die Freude und den Schmerz unseres Jahrhunderts als von der musikalischen Reise eines dunkelhäutigen Mädchens aus der südwestfranzösischen Provinz, das auf Französisch, Englisch und Lingala singt und seine Musik aus Pop, kongolesischer Rumba, Jazz, Soul, Chanson und HipHop formt.
Kolingas sinnlich-elegante Musik geht direkt in die Beine und wird aus tausend Quellen genährt, wobei Rébeccas Stimme die Zerrissenheit einer Künstlerin offenbart, die mit 30 Jahren zur Stimme eines virtuosen Kollektivs geworden ist. Das neue Album erzählt von polyphoner Identität, von den Gespenstern der Geschichte und der entwurzelten Gegenwart, von Erinnerungen, denen man nachgeht, und den anderen, vor denen man flieht.
In Rébeccas Leben war Musik immer selbstverständlich, denn sie vereinte ihre Eltern. Ihr Vater ist der aus Brazzaville stammende Sänger mit der unverkennbar hohen Stimme Angélou Chevauchet und ihre Mutter ist Claudie Escalé-Mbemba, die als erste weiße Frau in das kongolesische Nationalballett aufgenommen wird. Im Kongo sind die beiden Stars, aber das Schicksal entscheidet sich anders.
Rébecca wird im Südwesten Frankreichs geboren, wo ihre alleinerziehende Mutter Unterricht in afrikanischem Tanz gibt. Das kleine Mädchen lernt schnell und gibt irgendwann selbst Stunden. Ihren Vater sieht sie von Zeit zu Zeit, aber er bringt ihr weder seine Sprache bei noch seine Kultur nahe. Brazzaville entdeckt sie mit zwölf Jahren: „So viele Emotionen und so viele Informationen, dass ich mich an nichts mehr von dieser Reise erinnern kann.“ Sie kehrt aber regelmäßig dorthin zurück und gibt auch ihr erstes Konzert mit der Band FB Star dort. Als Tochter von Künstlern möchte sie lieber einen „richtigen“ Beruf erlernen und geht diesem Wunsch mit ihrem Studium der audiovisuellen Medien auch zuerst nach.
2014 begegnet Rébecca M’Boungou dem Multi-Instrumentalisten Arnaud Estor. Seine Weltoffenheit und ihr Leben zwischen zwei Kulturen lassen eine Zusammenarbeit ganz natürlich entstehen. Die beiden gründen Kolinga, was auf Lingala sowohl „verbinden“ wie auch „einkreisen“ in puncto Beziehungen, Inklusion und mehr bedeutet. Erste Kompositionen entstehen, erste Duo-Konzerte mit Loopern folgen und mit Earthquake wird 2016 auch ein erstes Album veröffentlicht.
Ursprünglich soll der bekannte Sänger und Autor Gaël Faye auf einem Stück mitwirken, aber das zerschlägt sich aufgrund des internationalen Erfolgs seines Romans Petit Pays (Kleines Land). Dafür tritt er zwei Jahre später im Video zum Stück „Kongo“ von Kolinga auf und lädt das Duo ein, Support bei einigen seiner Konzerte zu spielen, darunter auch ein Auftritt im Pariser Olympia.
Ein schon längere Zeit gehegter Wunsch geht nun in Erfüllung. Aus dem Duo wird ein Sextett, mit dem man höher, weiter und tiefer gehen kann: Schlagzeuger, Pianist und Multi-Instrumentalist Jérôme Martineau-Ricotti, Nicolas Martin (Bass), Jérémie Poirier-Quinot (Keybords, Flöte, außerdem für das Cover Artwork verantwortlich) und Vianney Desplantes (Euphonium, Flugabone). In ihren gesammelten Erfahrungen haben die Musiker u.a. bei Magma, den Arts Florissants, der Old School Funky Family, Jay-Jay Johanson, dem Ensemble 2e2m oder dem Cirque Bidon gespielt – eine wahre polyphone Enzyklopädie aus Strenge und Freiheit.
Die Stücke für Legacy stammen von Rébecca: „Ich schreibe wirklich allein, dann kümmern wir uns mit Jérôme um die Arrangements und danach kommen die anderen jeweils einzeln zu den Aufnahmen, immer in einer äußerst intimen, sehr tighten Atmosphäre.“
2021 spielt Kolinga trotz Lockdowns 30 Konzerte als Sextett und nimmt parallel dazu das neue Album auf. Für ein Stück begibt sich die Band auf die Spur des großen kongolesischen Musikers Samba Mapangala, von dem sie einen Soukous-Standard covern möchten. Er verwandelt sich in der Vereinigung von jubilierenden und unendlich traurigen kongolesischen E-Gitarren auf dem Album in einen Soul-Jazz-Mix.
Mit „Legacy“ hat die Band ein wunderbares Album „geschaffen“, das vom ersten Takt an fasziniert und außergewöhnlich Musiker präsentiert, die frei von jedweder Eitelkeit ihr Können in den Dienst ihrer Songs stellen, dabei nachdrücklich den Sinn der alten philosophischen Weisheit (Aristoteles) vom „Ganzen, das mehr ist als die Summer aller Teile“ unter Beweis stellt.
Das Album ist aber beileibe kein kühles, fast schon mathematisches Werk – vielmehr kommt es, auch in den ruhigeren Passagen, mit einer solchen mitreißenden „Wucht“ voller (Über)Lebenslust daher, die beim ersten Hören „sprachlos“ macht und den unbedingten Wunsch entstehen lässt, diese Formation auch live im Konzert zu erleben. Anspieltipps: „Je Suis Née Sous La Lune“ und „Mama (Don’t Let Me)“. (Photo © ub-comm)