Woche 42/2023
Melanie De Biasio
Il Viaggio (PIAS)
Das neue Album der belgischen Musikerin und Klangtüftlerin Melanie De Biasio ist eine Suche nach musikalischer, physischer und spiritueller Erneuerung, geboren aus einer geweckten emotionalen Erinnerung. Es verbindet das Konkrete mit Umwelteinflüssen und driftet von den natürlichen Klängen eines neuen Tages zu einer geträumten Welt. Sich auf den Weg zu machen, um sich selbst neu zu erfinden, ist der rote Faden, der sich durch dieses Album zieht, das als klangliche Reise in zwei Teilen angelegt ist: Lay Your Ear To The Rail (Disc 1) und The Chaos Azure (Disc 2).
Als das multidisziplinäre Kunstfestival Europalia Melanie De Biasio einlud, an seinem Festival 2021 zum Thema Züge und Gleise teilzunehmen, wurde die belgische Musikerin inspiriert, zu ihren Wurzeln zurückzukehren und den Weg der Einwanderung der Eltern ihres Vaters von Italien nach Belgien zurückzuverfolgen.
Mit einem leichten Aufnahmegerät und einer alten Kamera ließ sie sich allein in dem kleinen Bergdorf Lettomanoppello in den italienischen Abruzzen nieder. Dies wurde der Ausgangspunkt von „Il Viaggio“. Während ihres einmonatigen Aufenthalts sammelte sie Zeugenaussagen, vor allem von Ciccopeppe, einem Dorfbewohner, der nach Belgien ausgewandert war, aber in seine Heimat Italien zurückkehrte. Seine Geschichte und seine Stimme, die De Biasio faszinierten, bildet den Einstieg in „Lay Your Ear To The Rail.“ Melanie sagt dazu: „In seiner Stimme nahm ich ein Echo der gesamten Menschheit wahr“.
Während ihres Aufenthalts in den Abruzzen wanderte die Belgierin durch die Gegend und nahm auf, was sie „Texturen“ nennt – den Wind, das Wasser von Quellen und Bächen, Vogelgezwitscher, Gebell, Kirchenglocken. In diesen Momenten nimmt die Akustikerin den Platz des Musikers ein, um natürliche Klänge, ungezähmte Schwingungen einzufangen und sich von Sprache, Geschichten und Mythen zu befreien, um die uninterpretierte Welt voll und ganz zu empfangen.
Von Lettomanoppello aus reiste Melanie De Biasio in die Dolomiten, wo ihre Familie herkommt und wo sie als Kind die Sommer verbrachte. Dort fand sie das Haus ihrer Großmutter und nahm „Nonnarina“ auf, ein zartes Lied der Erinnerung, das zu deren Ehren komponiert und in ihrer Muttersprache Italienisch gesungen wird. Wie bei der Häutung, dem Moment, in dem man seine alte Haut verlässt, um die neue zum Vorschein kommen zu lassen, kehrt Melanie De Biasio zu einer wesentlichen Eigenschaft zurück. Begleitet von einer einfachen Gitarre drückt sie diese Sehnsucht in „Mi Ricordo Di Te“ aus, das ebenfalls auf Italienisch gesungen wird.
Als gespenstische Musik des Exils und der Wanderschaft führt „Lay Your Ear To The Rail“ den Hörer geduldig zu einer Rückkehr, „Il Vento“, „Now Is Narrow“ und „San Liberatore“ erfüllen die Anforderung, die die Musikerin an sich selbst gestellt hatte, nämlich diese Reise mit den Augen eines Kindes zu unternehmen. „Ein Kind denkt nicht, es träumt. Die Phantasie eines Kindes, losgelöst von den Sorgen der Erwachsenen, hat keine vorgeschriebenen Erwartungen“. Ähnlich wie der Entdeckungsprozess eines Kindes war diese Reise nicht nur introspektiv, sondern im Kern auch gemeinschaftlich:
Alle englischen Texte sind das Ergebnis einer kontinuierlichen Zusammenarbeit mit Gil Helmick, einem Dichter und Aktivisten, der in Maine in den Vereinigten Staaten lebt. Ausgehend von Gils Gedichten improvisieren die beiden mit Worten, und es entsteht eine Synergie aus Bildern und Bedeutung. Die beschwörenden Texte von „We Never Kneel to Pray“ und seiner Variante „The Chaos Azure“ sprechen von einer leuchtenden Rebellion, Akzeptanz und letztlich von Liebe.
Nach ihrer Rückkehr nach Belgien arbeitete Melanie De Biasio eng mit dem Multiinstrumentalisten Pascal Paulus zusammen, der an allen ihren früheren Alben beteiligt war. Mit dem in Italien aufgenommenen Rohmaterial schufen sie die musikalische Grundlage für jedes der Stücke dieses Albums. Anspieltipps: „Now Is Narrow“ und „We Never Kneel To Pray“