Woche 46/2022
Inga Lühning & André Nendza
Hodgepodge Vol. 1 (Jazzsick)
Fortschritt und Kontinuität stehen einander oft im Weg. Wenn diese beiden vermeintlich antagonistischen Prinzipien einander jedoch bedingen, entsteht meist Großes. „Voyage“, das zweite Album von Deutschlands kleinster Big Band Was Nun, ist zweifellos ein solcher Glücksfall. Das Echo des erst im letzten Jahr erschienenen Debüts hallt noch nach, und doch bricht die sechsköpfige Band in ganz neue Gefilde auf.
So originell der Bandname Was Nun ist, gelingt es der Gruppe, ihn auf „Voyage“ in herrlich erfrischender Weise zu ignorieren, denn bei ihrem zweiten Streich weiß das Sextett ganz genau, was nun zu tun ist. Saxofonist Moritz Aring, Trompeter Marvin Zimmermann, Posaunist Jan Frederik Schmidt, Pianist Tony Williams, Bassist Marcus Lewyn und Drummer Erik Mrotzek kultivieren weiterhin jenen aufmüpfig distinguierten Sound des Vorgängers, der sich zwar huldvoll an den Errungenschaften der Jazzgeschichte anlehnt, aber gleichzeitig selbstbewusst in die Zukunft aufbricht. Die Arrangements für die drei Bläser und die Rhythmusgruppe sind so ausgefeilt und präzise, dass es oft schwer zu glauben ist, dass da nur eine Sextett-Besetzung am Werk ist.
Aber die sechs Protagonisten von Was Nun sind viel zu neugierig, um sich mit Erreichtem zufrieden zu geben. Sie nahmen den Anlaufschwung des ersten Albums zwar auf ihre Reise mit, machten sich aber im Vorfeld der Produktion des Nachfolgers ausgiebige Gedanken über anstehende Veränderungen. Von einer Reihe Theaterprojekten, die dem Debüt vorangingen, war die Band es gewohnt, in großen Zeitabläufen zu denken.
Diesmal wollte sie aber mehr den unmittelbaren Augenblick genießen. Dieses Bekenntnis zur Spontaneität kommt mit geballter Kraft rüber. Erzählten die sechs Reisenden auf „Labyrinth“ noch eine Geschichte, woher sie kommen, markieren sie auf „Voyage“ umso deutlicher, wo sie derzeit stehen. Dieser subtile Sprung in die Gegenwart äußert sich in jedem Song auf andere Weise. Wo andere Bands reifen und altern, hat Was Nun zwar hörbar an Erfahrungen hinzugewonnen, zugleich aber in einem Jungbrunnen gebadet, ohne sich dem Geschmack ihrer Hörerinnen und Hörer anzubiedern.
Die Songs der Sechserbande erzählen Geschichten aus dem Leben aller Beteiligten. Seien es persönliche Erinnerungen Einzelner an Aufenthalte an bestimmten Orten oder jüngst verstorbene Freunde wie auch gemeinsame Erlebnisse der ganzen Band – die Eindringlichkeit des individuellen Erzähldrucks, der in eine kollektive Sprache übersetzt wird, ist vom ersten bis zum letzten Ton des Albums mit den Händen zu greifen.
Zur neuen Gangart von Was Nun gehört auch die Aufwertung der Rhythmusgruppe. Standen Klavier, Bass und Schlagzeug auf „Labyrinth“ noch – wenn auch prominent – ein wenig im Schatten der breit aufgestellten Bläser-Front, setzen sie auf „Voyage“ viel mehr eigene Akzente. Das Spiel von Was Nun wird dadurch konturierter und kontrastreicher. Große Parts erscheinen so noch größer, kleinere Parts wirken viel kleiner.
Die Gesamtheit der Gegensätze ruht auf allen sechs Schultern. Bassist Marcus Lewyn betont, dass hinter diesem Prozess keine bewusste Entscheidung stand, aber Saxofonist Moritz Aring hält fest, dass man viele Parts einfach weniger durcharrangieren wollte. Damit öffnen sich größere Freiräume für die spontane Entwicklung von Ideen, und die Rhythmusgruppe kommt einfach stärker zur Geltung.
Die gestalterischen Impulse der Band sind sehr ausgeglichen verteilt. Die bereits auf „Labyrinth“ hinterlegte Signatur von Was Nun ist unverkennbar, und doch ist die Reisegruppe auf „Voyage“ im Einzelnen viel unberechenbarer und die Dramaturgie von Song zu Song, aber auch innerhalb der jeweiligen Songs unvorhersehbarer geworden. „Das Album mag wie eine Aneinanderreihung von Kurzgeschichten wirken“, so Aring, „doch all diese Storys haben Verknüpfungspunkte. Deshalb haben wir uns auch für den Albumtitel ‚Voyage’ entschieden. Was haben wir auf unserer Reise schon gemeinsam erlebt und gesehen, und was mag am Horizont noch auf uns warten?“
Auf Reisen zu gehen, heißt immer, etwas Vertrautes zurückzulassen, um etwas Neues hinzuzugewinnen. Diese Magie des Loslassens ist ein roter Faden, der sich durch die Songs des Albums zieht und auch bei jedem Wiederhören aufs Neue überzeugt. Anspieltipps: „Rue de Blamage“ und „Obstacle Course“. (Photo © Kerkau promotion)