Woche 21/2023

Baiju Bhatt & Red Sun

People Of Tomorrow (Neuklang)

Komm mit in die Zukunft, komm mit in einen neuen Bewusstseinszustand, lass dich auf eine Welt ein, in der die Kulturen verschmelzen, Unterschiede gefeiert werden und die Möglichkeiten unendlich erscheinen. Wo transalpine Gipfel und nebelverhangene Täler auf die Hitze und die Farbschattierungen der Paläste Rajasthans treffen. Wo Musik Leben ist und Virtuosität eine Voraussetzung, wo die Violine tanzt und singt.

All das und mehr findet man auf „People Of Tomorrow“, dem dritten Album (VÖ 31-3.2023) des Violinisten und Bandleaders Baiju Bhatt und seinem Jazz-Fusion-Ensemble Red Sun. In ihm öffnen sich meditative Räume und spannende interkulturelle Pfade, Wachträume, alte Weisheiten und lebendige Ausdrucksformen der Freude.

An diesem Ort bestimmen nur die Hörenden selbst, wer oder was sie sind. An ihm bauen Kulturen Brücken, Grenzen werden übersprungen und Musik stammt aus einer in der ganzen Welt bestückten Schatzkiste: vom zeitgenössischen Jazz, Jazz Fusion, Progrock, Gypsy Swing, türkischen, keltischen, afrokubanischen Quellen, der westlichen Klassik, karnatischer und hindustanischer Musik. Und mehr.

„Es war befreiend, das Album aufzunehmen“ sagt der größtenteils in Lausanne als Sohn einer Schweizer Lehrerin und eines Sitar-Meisters aus Rajasthan aufgewachsene Violinist Baiju Bhatt. „Ich musste nichts beweisen, vor allem nicht mir selbst. Das hatte ich schon mit meinem vorherigen Album getan“, dem preisgekrönten und von der Kritik gelobten „Eastern Sonata“. „Ich hatte Spaß am live spielen und unterrichten und alles erreicht, was ich mir vorgenommen hatte. Red Sun gewann an Prestige. Wir tourten in Europa und der ganzen Welt. Ich konnte zeigen, dass ich das Familienleben mit dem eines professionellen Musikers ausbalancieren konnte, was mir sehr wichtig war“, so Bhatt, der Vater eines Sohnes ist.

Mit der Pandemie kam ein Leben im Schwebezustand, ein angsteinflößender, unbehaglicher, oft transformativer Stillstand. Bhatt wandte sich der Musik seiner Helden zu: den Brecker Brothers, Shakti feat. John McLaughlin, dem indischen Violinisten L. Shankar, den Yellowjackets, Tigran Hamasyan, Jean Luc Ponty sowie seinem Freund und musikalischen Begleiter, dem in Paris aufgewachsenen französisch-vietnamesischen Jazzgitarristen Nguyên Lê.

Baiju beschäftigte sich außerdem erneut mit dem Werk seines Vaters, des vielgerühmten Sitarspielers und Schülers von Ravi Shankar, Pt. Krishna Mohan Bhatt. Er vertiefte sich in die klassische Musik Südindiens wie z.B. die gesangsorientierte karnatische Tradition und die hindustanische Musik aus dem nordindischen Rajasthan, die mit Sarod, Sitar und Violine eher instrumental geprägt ist. „Ich habe mein ganzes Leben lang klassische indische Musik gehört“, sagt Bhatt, „und ich habe regelmäßig die erweiterte Familie meines Vaters in Indien besucht, die zum Großteil in einem Gebäude in Jaipur lebt. Es gibt dort dieses Gemeinschaftsgefühl, wie das eines Stammes, das mich als Außenseiter interessiert hat.“

Ein Außenseiter mit den Privilegien eines Insiders. Ein Jazzmusiker mit direktem Draht zur indischen Kultur und Musik. Ideal war das nicht immer. „Als Teenager war ich ein Außenseiter in beiden Welten. Ich war Inder in der Schweiz und Schweizer, wenn ich in Indien war. Aber nach und nach fand ich durch diese hybride Situation unterschiedliche, meine Musik formende Perspektiven, und ich verband mich durch die Sprache des Jazz und der Improvisation mit meinem indischen Erbe.“

Bhatts Violinenspiel ist atemberaubend: ob er Doppelgriffe nutzt oder das Instrument singen lässt, ob bei neuen, sich wiederholenden oder sich jagenden Motiven. Mit großem technischem Können wird ein akrobatisches karnatisches Stück schneller und noch schneller, lyrisch, innovativ und einem Gefühl der mir-ist-alles-egal-Befreitheit versehen. Das Album endet mit dem Stück „Postlude“ für Klavier und Violine. Es ist eine aufs Wesentliche reduzierte Version von „Hypnagogia“, bei der Bhatt Pizzikato ohne Geigenbogen spielt, so wie er jedes Set von Red Sun-Konzerten beschließt. Anspieltipps: „Peopöe Of Tomorrow, Part I+II“ und „Inner Nomad“.