Woche 33/2023
Joanna Wallfisch
All In Time (Galileo MC)
Die in London geborene Joanna Wallfisch entstammt der jüdischen Musikerfamilie Lasker-Wallfisch, ihr Vater und Bruder sind renommierte klassische Cellisten, ihre Mutter Violinistin. Nach einer Ausbildung zur Jazz-Sängerin ging sie 2012 nach New York und hat sich seitdem mehr in Richtung Folk und Pop-Jazz entwickelt. „All In Time“ (VÖ 25.08.2023) ist ihr mittlerweile 6. Album seit ihrem Debüt „Wild Swan“ aus dem Jahr 2011. Wie so viele Künstler, die versuchten, ihren Weg durch Lockdownzeit ab März 2020 zu finden, begann die Inspiration für diese Songs mit der Kraft eines unterirdischen Flusses zu fließen, der neue Nebenflüsse bildete.
Das Album beginnt mit dem lebhaften und lyrischen „Praying Mantis“. Angeführt von Joannas funkelndem Charango-Spiel und vielschichtigem Gesang schwingt die Band – einschließlich Harfe, Orgel, Bass und Schlagzeug – mühelos im 7/4-Takt, während Joanna singt: „I am reaching for a hand to hold me tightly as I gently go to sleep“. Es ist ein Lied, das die Angst und die Ungewissheit in der Zeit der Pandemie offenbart, und mit kindlicher Freude und Neugier Wege sucht, sie zu bewältigen.
„Killer Whale“ lässt den Hörer in einen nächtlichen, ozeanischen Raum eintauchen. Inspiriert von Joannas wiederkehrendem Traum, in dem sie von einem Orca in den Abgrund gelockt wird, wird der Song zu einer Metapher für eine verführerische Romanze mit dem Unbekannten. „One Wish“, geschrieben im April 2020, begann als eine Meditation über Joannas Sehnsucht, ihre Familie wiederzusehen, insbesondere ihre 96-jährige Großmutter Anita, die den Holocaust überlebte, weil sie in der Frauenkapelle in Auschwitz-Birkenau Cello spielte. Die Musik rettete ihr das Leben und ist seither das Herzstück der Familie Wallfisch und Joannas Leben.
„Desert Wind“ offenbart mit einem beschwingten, groovigen Rhythmus, der den Hörer in die Hitze und wundersamen Eigenschaften der Wüste eintauchen lässt, eine andere Seite von Joannas Klangwelt. Geschrieben in der Mojave Wüste während eines einsamen Aufenthalts im Mai 2020, den sie zum Schreiben nutzte, schildert der Song Joannas Erfahrungen und verwandelt die Geheimnisse der Wüste in eine sinnliche Liebesaffäre.
Den Titeltrack All in Time schrieb sie auf dem Boden sitzend in ihrem Wohnzimmer kurz nachdem sie erfuhr, dass sie mit ihrem ersten Kind schwanger war. „Meine Art, die Welt zu verstehen, besteht darin, Lieder zu schreiben. Während ich also über das Wesen, das in mir heranwächst, meditierte, stellte ich mir vor, wie ich süße Stille in den dunkelsten Raum – meinen Mutterleib – flüsterte, und dabei verband ich mich zum ersten Mal mit meinem Kind“, erzählt Joanna Wallfisch.
Joanna spielt eine Nylonsaiten-Gitarre mit einer von ihr kreierten offenen Stimmung und baut feinfühlige gegenläufige Melodielinien, die sich mit dem Gesang, der glitzernden Harfe und anderen Instrumenten verweben. Dies ist der intimste und verletzlichste Song auf dem Album und bis heute in Joannas gesamtem Songkatalog.
Die zweite Hälfte des Albums beginnt mit einem Tom Waits-artigen Song der den Titel „Sometimes I’m Sad For No Reason“ trägt. Der Text ist an der Grenze der Lächerlichkeit, unbestreitbar theatralisch und dennoch poetisch nuanciert, was genau zu Wallfischs Hintergrund in Theater und Jazz und ihrer kindlichen Liebe zu Nonsens-Poesie passt. Joanna Wallfisch ließ der Band im Studio freie Hand, nur die Note „go for your lives“ stand am Anfang jedes Takes. Dieser Song unterstreicht besonders Carey Franks (Klavier) immense kreative Vielseitigkeit.
Das einzige Duett auf dem Album ist ein rohes und verletzliches Stück mit dem Titel „United By The Rain“, das den schockierenden Zustand der Obdachlosenkrise in Los Angeles und die erschreckenden Grenzkontrollen zwischen Mexiko und den USA während (und seit) der Amtszeit des ehemaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten illustriert. Joanna Wallfisch arbeitet mit der gemeinnützigen Organisation Urban Voices Project zusammen, die Musikunterricht und Therapien für die Obdachlosen in der Skid Row anbietet. Sie wünscht sich, dass dieser Song eine Erinnerung daran ist, dass jeder Mensch, unabhängig von seiner Situation, immer noch ein Mensch ist.
Am Ende des Albums wartet die schwindelerregende Up-Tempo-Nummer „Uprise Skyward“. Mit 36 Gesangsparts, Harfe, Bass, Schlagzeug, Klavier, Orgel und Gitarre ist dies ein Song der Hoffnung. Inspiriert von der Kraft der Gemeinschaft gegen Hass und Rassismus, soll „Uprise Skyward“ dem Hörer positive Kraft für die wichtigen Veränderungen geben.
Das Album gipfelt in einer hypnotischen und filmischen Reise in „Pont Louis Phillipe“, die die Geschichte erzählt, wie Joannas Musikkarriere begann: in Paris, 2008, als sie über einen Straßenmusiker stolperte, der sie einlud, am Ufer der Seine zu singen. Der wiederholte Refrain, ein launiges „la di da“, steigert sich zu einem Höhepunkt, der das Album mit einem feierlichen Gefühl abschließt: das Schließen eines Kapitels, das sicher bald das nächste eröffnet. (Cover (c) Galileo MC)