Woche 2/2023

Lucas Santtana

O Paraíso (Nø Førmat!)

Lucas Santtana ist 1970 in Salvador de Bahia geboren. Sein Vater ist der Produzent Roberto Sant’ana und sein Onkel der bekannte Tropicália-Musiker Tom Zé. Erste Erfahrungen als Musiker sammelte er als Querflötist bei Orchestern im brasilianischen Bundesstaat Bahia; 1993 folgte eine erste Aufnahme als Musiker auf Caetano Velosos und Gilberto Gils Album Tropicália 2; mit Letzterem arbeitete er als Flötist in den 1990er Jahren weiter zusammen.

Während dieser Zeit lernte Santtana in den Auftrittspausen innerhalb langer Tourneen Gitarre zu spielen und seine eigenen Songs zu schreiben, die zuerst in gemeinsame Projekte mit Arto Lindsay, Marisa Monte und Daniela Mercury mündeten, bevor er im Jahr 2000 sein erstes Soloalbum „Eletro Ben Dodô“ veröffentlichte.

Sein mittlerweile neuntes Soloalbum „O Paraíso“ (VÖ 13.01.2023), das durch die aktuelle Entwicklung in Brasilien eine zusätzliche bedrückende Aktualität erhält, ist ein kämpferisches Werk aus trügerisch sanften brasilianischen Klängen, Jazz und Electronica. Es ist ein Appell an die Menschheit zum Umdenken: das Paradies existiert im Hier und Jetzt, auch wenn es verwundet sein mag. Wir alle tragen eine Mitverantwortung für seine sich beständig verändernde Gestalt und sind verantwortlich für sein Überleben.

Das Brasilienbild im Rest der Welt ist auch heute von Phantasien über ein mysteriöses, paradiesisches Land wie in der Beschreibung des deutschen Abenteurers Hans Staden aus dem 16. Jahrhundert oder den Bildern des französischen Malers Félix Émile Taunay aus dem 19. Jahrhundert geprägt – eine Vision von Eden, die brasilianische Musiker*innen später in ihr Gitarrenspiel einfließen lassen sollten.

Lucas Santtana ließ sich davon inspirieren und verstand, dass das Gefühl der natürlichen Schönheit universell ist. „Wie im Paradies“ fühlen wir uns jedes Mal, wenn wir im Urlaub an einen wunderschönen, inmitten der Natur gelegenen Ort reisen und sehen den Planet Erde intuitiv als Ort der Wunder. Auch wenn diese Prämisse durch unser Wirtschaftsmodell der Ausbeutung natürlicher Ressourcen tiefe Dellen erhalten hat, ist sie in ihrem Kern richtig. Lucas Santtanas neues Album bewegt sich um den Gedanken herum, dass das Paradies schon da ist („O Paraiso jà é acqui“) und wir daher den Sinkflug in die Hölle mit allen Kräften aufhalten müssen.

Entstanden ist „O Paraíso“ während der Pandemie. Dieser Einschnitt in die Menschheitsgeschichte konnte nicht spurlos an Lucas Santtana vorbeigehen. Er ist ein Sohn Bahias, der Zentrale des afro-brasilianischen Synkretismus mit seinen Göttern und Göttinnen, die das Wasser, den Donner, den Wald und das Meer kontrollieren. „Es war wie eine Botschaft des Tierreichs an uns, angesichts seiner sich schon lange ankündigenden Erstickungsgefahr. Die Fluten, Feuer, Dürren, Tsunamis, verspäteten Monsunregen, schmelzenden Gletscher und Ölteppiche sind alle Alarmglocken, die wir nicht hören wollen. Wie viele SOS-Signale müssen gesendet werden, bevor wir unsere Augen öffnen“ fragt Lucas Santtana in Song „A Transmissão“.

Santtana zeigt die Quellen unserer Plagen auf, um sie besser bekämpfen zu können. Im Text der ersten Single „Vamos ficar na terra“, die nach seiner Lektüre eines Artikels über Elon Musks Marspläne entstand, erzählt er von rasender Gier und Geiz,

deren traute Vereinigung mit „Mr Consumption“ immer im Tod enden. „Ich würde Elon Musik sagen, dass es dumm ist zum Mars fliegen zu wollen, wenn wir die gigantische Möglichkeit haben, auf dem einzigen bewohnbaren Planeten des Sonnensystems zu leben“.

Thema des gemeinsam mit der Band Les Petits Chanteurs from Asnières eingespielten französischsprachigen Songs „Biosphere“ ist der Wahnsinn und die Gier der Agrarindustriellen und der Hersteller von Spitzentechnologien, die mit ihren Lügen den freien Fall noch weiter voran treiben statt ihn abzubremsen. Wir befinden uns in einer Zeit der Entscheidungen: weiterleben oder sterben. Wir sollten den Schamanen zuhören, den indigenen Völkern, den wahrlich Zivilisierten singt Santtana: „Man can never be master of a nature that’s outside of him”.

Das Album wurde in Paris „mit Musiker/innen, die gerade vor Ort waren“ eingespielt. Mit von der Partie sind Fred Soulard (Klavier, Keyboards, Produktion), der brasilianische Perkussionist Zé Luis Nascimento, der französische Cellist Vincent Segal, der Saxophonist Laurent Dardainne und die Bläsersektion bestehend aus Remi Scuito und Sylvain Bardiau. Alle sind Meister der musikalischen Subtilität, kleiner impressionistischer Tupfer mit Schlagzeug, Marimba, Blasinstrumenten, Synthesizern und Streichern. Anspieltipps: „Errare Humanum Est“ und „Vamos Ficar na Terra“.